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Mit der Lehmrakete in die Zukunft

Persönliche Perspektiven auf den Kolonialismus: Das Performance-Kollektiv Hajusom präsentiert „Azimut dekolonial“ auf Kampnagel.

Autor: Robert Matthies, Redakteur taz nord

Nach zwei Stunden ist der ganze Boden übersät mit lehmigen Schuhabdrücken. Ein Kreuz und Quer abgeschrittener Wege zieht sich so durch die labyrinthisch verschachtelte Installation, die das Hamburger transnationale Kunstprojekt Hajusom für sein aktuelles Stück „Azimut dekolonial – ein Archiv performt“ aufgebaut hat. Einige dieser Spuren stammen von den 16 Performer*innen, die meisten aber vom Publikum, das sich während des Abends frei durch den szenischen Parcours in Halle K2 auf Kampnagel bewegt.

Verschachtelt war schon der Tunnel, durch den man zu Beginn in kleinen Gruppen eingelassen wurde, vorbei an einer riesigen Rakete aus Lehm, von deren Baustelle das durch den Raum getragene Spurenmaterial stammt.

In der Mitte einer Freifläche, um die herum sich ein schroffes Tribünengebirge auftürmt, voller Höhlen und Klüfte, in denen sich mit Treppen verbundene Spielstätten verstecken, stehen sich zwei Reihen von Performer*innen gegenüber. In einem Kontratanz wechseln sie in immer neuen Konstellationen Positionen und Perspektiven.

Es ist ein Tanz, der dem Abend eine Richtung gibt, denn immerzu geht es um die Vielfalt von Positionen und Perspektiven – und die Möglichkeit, sie zu wechseln, zu überlagern oder zu überschreiben.

Zerklüftete Erinnerungen

Dann beginnt die Jüngste der Performer*innen – gerade mal neun Jahre alt ist sie – vom gemeinsamen Auftrag zu erzählen: All die ungehörten Geschichten zu Gehör zu bringen, all die Geschichten ans Licht zu bringen, die „unter der Erde wachsen“ – weil sie von Toten handeln, von der Gewalt, die ihnen durch den Kolonialismus angetan wurde; und von den durch koloniale Strukturen geschlagenen individuellen und gesellschaftlichen Wunden, deren Folgen die Hajusom-Performer*innen bis heute am eigenen Leib spüren. Bis auf eine sind alle von ihnen in anderen Ländern aufgewachsen, bevor sie als Geflüchtete oder auf anderen Wegen nach Deutschland gekommen sind.

Überall geht es um Wege an diesem Abend, um die Verbindungen von Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünften, um die Möglichkeit, sich gemeinsam zu orientieren. Denn auf einen Punkt bringen, das wird schnell deutlich, lassen sich all die Perspektiven nicht, die hier in verschiedenen, immer wiederholten kleinen Szenen, auf Fotos oder in der Musik auftauchen.

„Die Wege“ – nichts anderes bedeutet auch der aus dem Arabischen kommende titelgebende Begriff Azimut. In der Astronomie bezeichnet er einen nach Himmelsrichtungen orientierten Horizontalwinkel und dient der Navigation. Aber, das ist die zentrale Frage des Stücks: Sehen wir alle dieselben Sterne?

Wege durch den Kolonialismus

Entstanden ist das Projekt im Anschluss an die Performance „Silmandé“, die sich vor zwei Jahren mit dem Klimawandel, der Macht und den Möglichkeiten eines anderen Umgangs mit dem Planeten, dessen Ressourcen und Bewohner*innen auseinandergesetzt hat. Auch „Azimut“ nunh ist als offene Frage formuliert: Wie schlägt sich der Kolonialismus in der eigenen und der erzählten Geschichte nieder? Und auf welchen Wegen lässt sich eine neue gemeinsame Zukunft finden, die aus der kolonialen Gewalt herausführt?

Auf verschiedenen Wegen haben sich die Performer*innen dafür in den vergangenen Monaten auf die Suche nach ganz persönlichen Antworten begeben; haben mit dem Arbeitskreis „Hamburg postkolonial“ zusammengearbeitet und in der Hajusom-eigenen Bibliothek recherchiert. Vor allem aber sind sie in ihren Familien auf Spurensuche gegangen, haben in ihren eigenen Erinnerungen gewühlt, sind zu Familienmitgliedern nach Burkina Faso, Nigeria, Mali oder Chile gereist, haben Großeltern oder Nichten interviewt.

Auf der Grundlage dieser Erinnerungen haben sie schließlich den frei begehbaren Szenen-Parcours mit verschiedenen thematischen Schwerpunkten entwickelt.

An einer Station geht es etwa mit aus Kakao angemischten Farben um die (post-)koloniale Ökonomie und die bis heute wirksame rassistische Hautfarbenlehre der europäischen Aufklärer, allen voran Kant und Hegel.

Auch an einer zweiten Station taucht die Kakaosoße auf: Ein Performer und eine Performerin sitzen im Schoko-Bad und plaudern zu den Klängen einer Band („Ich versteh’ kein Wort, aber es klingt so schön, was ihr singt!“) über grenzenlosen Genuss, aber auch über Ausbeutung und Sexismus.

Es sind nur fragmentarische Schlaglichter auf eine komplexe koloniale Situation: Da braucht es schon einen Quantencomputer fürs Handgelenk, mit dem eine der Performer*innen all die Informationen sammelt: um die unterschiedlichen Perspektiven und Wahrheiten über Zustände zu verschränken. Tatsächlich beginnen all die Antwort-Fragmente sich immer mehr zu einem Kaleidoskop aus Perspektiven und Geschichten zu überlagern, beginnen Töne, Symbole und Satzfetzen miteinander zu resonieren.

Wie schon in „Silmandé“ setzt Hajusom auch in „Azimut“ ganz auf die Kraft der Kooperation eines vielfältig gebrochenen Kollektivs. Und am Ende hebt die Lehmrakete tatsächlich ab, angetrieben von der Macht der Erinnerungen und Wünsche, die dieses hinreißend lebendige Archiv hier entwickelt hat: eine transnationale Rakete auf dem Weg in eine offene Zukunft. Eine Zukunft, in der Platz für alle ist – auch für die „Ausradierten“.

Link zur TAZ: https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5581782&s=hajusom/

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