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Ein Bunker der Achtsamkeit

14.08.2017

Die Kulisse ist beeindruckend: in direkter Nachbarschaft zum Stadion des FC St. Pauli steht der Hamburger Flakturm IV, ein brutalistischer Bunker. Auf dem Dach stehen Palmen, und so wirkt der Weltkriegsbau wie eine kühne, überhippe Installation eines größenwahnsinnigen Künstlers – kalt, überheblich, und nicht gerade einladend. Betritt man aber das Gebäude und findet nach einigen Abzweigungen in den engen Gängen die Räume von Hajusom, dann öffnet sich hinter den meterdicken Wänden ein Hort der Menschlichkeit und des künstlerischen Austauschs.

1999 begannen die Performance-Künstlerinnen Ella Huck und Dorothea Reinicke, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits gut kannten, mit jungen Geflüchteten Perfomances zu erarbeiten. Zunächst war das Projekt auf drei Monate ausgelegt, so wirklich aufhören wollte aber niemand – weder Huck und Reinicke, noch die Jugendlichen, mit denen sie arbeiteten. Und so kam es, dass Hajusom, so der Name des Projekts, noch heute besteht und mittlerweile zu einer festen Größe in der Hamburger Performance- und Theaterszene herangewachsen ist.

Es ist Freitag nachmittag, und in den Räumen in einer Ecke des Flakturms hat Ella Huck einige der Performerinnen und Performer aus dem Ensemble um sich versammelt. Sie sollen in den kommenden Wochen Kurse für Kinder und Jugendliche an der Hamburger Volkshochschule geben. Die Weitergabe von Wissen und Erfahrung aus dem Ensemble an andere Geflüchtete oder, wie in diesem Fall an Hamburger Schülerinnen und Schüler, ist ein zentraler Bestandteil des Projekts. Um diesen Teil der Arbeit weiter zu intensivieren, plant man eine „Pass On“ genannte Initiative. Dabei soll die im Ensemble gelebte Idee, aus Zugehörigkeit Sicherheit und Selbstbewusstsein zu ziehen, theoretisiert und analysiert werden, um dann von den Performerinnen und Performern weitergeben zu werden. Das klingt jetzt sehr doziert, meint aber nichts anderes als eine reflektierte Aufarbeitung und Vermittlung des eigenen Kerns.

„Hajusom bietet einen Raum, in dem man sich frei äußern kann.“

Was genau dieser Kern eigentlich ist und was Hajusom von anderen Theater- und Performance- Gruppen unterscheidet, darüber machen sich alle Beteiligten regelmäßig Gedanken, besonders, seitdem das Projekt in den vergangenen Jahren mehr und mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist. Farzad, seit 2009 fester Bestandteil des Ensembles und von einer beeindruckenden Aura sagt: „Wir bekommen im Leben ständig Widerstände aufgezwungen. Gerade wenn man Geflüchteter ist, traut man sich nicht, seine Geschichte zu erzählen oder Stellung zu beziehen. Hajusom bietet einen Raum, in dem man sich frei äußern kann. Hier wird akzeptiert, was man selbst für richtig hält, und unsere Ideen werden ernstgenommen.“

Dazu kommt, dass neue Kursteilnehmerinnen und Teilnehmer, die nicht aus Deutschland stammen, sich schnell mit den Kursgebenden identifizieren können. „Alle haben mit den gleichen Barrieren und Vorurteilen zu kämpfen. Bei Hajusom muss ich mich nicht verstellen, sondern kann meine Persönlichkeit so zeigen, wie sie ist“, sagt Zandile, die ebenfalls seit mehreren Jahren im Ensemble spielt und Kurse für junge Geflüchtete gibt.

Ella Huck und Dorothea Reinicke haben bald über zwei Dekaden eine besondere Art des Umgangs und der Kommunikation kultiviert. Worte wie „Achtsamkeit“, „Feedback“ und „Reflexion“ fallen immer wieder, wenn es darum geht, den Kern der Zusammenarbeit im Hamburger Hochbunker zu beschreiben.

Als Huck und Reinicke vor 18 Jahren damit anfingen, mit geflüchteten Menschen zu arbeiten, musste ein Dolmetscher in vier Sprachen und unterschiedliche afrikanische Dialekte übersetzen. Das lehrt in Geduld und Verständnis. Mittlerweile braucht es keinen Dolmetscher mehr. Alle im Ensemble sprechen fließend Deutsch.

Bei aller Rücksichtnahme und Geduld hat jeder den Anspruch, auf hohem künstlerischem Niveau zu arbeiten. „Unsere Produktionen sind von hoher Qualität und werden immer wieder ausgezeichnet“, sagt Ella Huck. Zuletzt hat Hajusom für die Performance „Silmandé“ mit dem Ensemble Resonanz zusammengearbeitet, einem der weltweit führenden Kammerorchester, das derzeit in der Elbphilharmonie residiert.

„Jeder kann sagen: da mache ich nicht mit und schlafe lieber.“

Jeden Freitag trifft sich das Ensemble zur Probe. An diesem Tag kommt Joseph dazu, ein Performance-Künstler, der mit der Gruppe an einem neuen Stück arbeiten wird. Das Ensemble arbeitet immer wieder mit Künstlern von außerhalb, die ihre eigenen Impulse und Arbeitsweisen mitbringen. Aber, und das ist Ella Huck ganz wichtig: „Andere Künstler bringen andere Methoden mit, aber alles ist immer sehr offen. Jeder kann sagen: da mache ich nicht mit und schlafe lieber. Die Geste des Schlafens wird dann sicherlich irgendwie eingebaut. Es gibt kein geschlossenes System.“ Zandile sagt dazu: „Der Raum bei Hajusom ist so groß, dass es egal ist, ob man einen Text schreibt, tanzt oder Musik macht. Irgendwie passt es am Ende rein, in das, was wir machen.“

Es ist der Versuch, aus dem Potenzial und der Geschichte aller Beteiligten künstlerisches Kapital zu schlagen – nicht aber im Sinne einer Ausbeutung und Aneignung, sondern basierend auf der festen Überzeugung, dass alle Performerinnen und Performer zu einem Stück beitragen können, auch, wenn sie unterschiedlich gut ausgebildet sind: „Bei einer Choreografie von uns ist es typisch, dass nicht alle gleich gut tanzen. Das wird akzeptiert. Die Menschen werden hier so genommen wie sie sind. Im zweiten Schritt öffnen sie sich dann und werden besser“, so Zandile.

Von der untergehenden Sonne über St. Pauli bekommt man während der Probe im Flakturm wenig mit. Nachdem die Performerinnen und Performer zum Aufwärmen übereinander gerollt sind und ihre Schultern gegeneinandergedrückt haben, geht es um individuelle Erfahrungen mit dem Koran. Es wird offen über Schläge gesprochen, die es zur Strafe gab, wenn Suren und Verse nicht auswendig aufgesagt wurden, es geht um komplizierte Familienstrukturen, die strenge Trennung von Kindern und Erwachsenen beim Essen. Allen wird zugehört, nichts wird bewertet. Was aus den Gesprächen und Erzählungen letztlich genau erwächst, das weiß vielleicht niemand im Raum.

Dafür spürt man eine grenzenlose Motivation und die unantastbare Überzeugung, dass etwas Neues entsteht, das man auf großer Bühne zeigen kann.

Über die ganze Zeit herrscht eine strukturierte, intime Offenheit, die neben der künstlerischen Qualität wohl der eigentliche Träger der kontinuierlichen Arbeit des Ensembles ist. Wenn man nach mehreren Stunden die Räume von Hajusom verlässt und in die Hamburger Abendsonne tritt, dann ist man fast ein wenig gerührt, so liebe- und respektvoll ist der Umgang unter den Künstlerinnen und Künstlern. Später am Abend, nach der Probe, werden sie gemeinsam essen. Auch das ist hier vollkommen selbstverständlich.

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