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Rheinischer Merkur - 08.03.2007

Wir gehen an die Grenze

Im Theater Hajusom in Hamburg bringen Flüchtlinge ihren Alltag auf die Bühne. Bei jeder Aufführung ist die Angst vor Abschiebung mit dabei.

Langsam trudeln die Gäste in der Lobby des Luxushotels "Holiday Inn" ein: Nelson Mandela, Josephine Baker, Karl Marx, gefolgt vom Bürgerrechtler Malcolm X und dem Astronauten Ulf Merbold. Illustre Persönlichkeiten, die sich wie zufällig treffen und an der Rezeption von Otto Bender begrüßt werden. Doch die bekannten Gäste verbindet noch mehr als der Promi-Status: Sie allesamt kämpfen für eine Utopie, für eine bessere Welt. "Sie glauben an eine Welt, in der alle Menschen gleich sind und Grenzen und Pässe der Vergangenheit angehören", erklärt der Schauspieler Ibrahima Bah. "Unser Holiday Inn ist ein Symbol für ein besseres Leben", sagt der schlaksige 22-Jährige.

Von einem Leben mit Perspektive und ohne die nagende Unsicherheit träumt auch Ibrahima und mit ihm das gesamte rund 25-köpfige Hajusom-Ensemble. Alle Darsteller sind als illegale minderjährige Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Sie sind Experten in Sachen Grenzerfahrung, haben auf ihrer Flucht nach Deutschland gleich mehrere Grenzen passiert - Landesgrenzen, innere Grenzen. Mindestens sechs Ensemblemitglieder leben derzeit permanent an der Grenze - weil sie keinen gesicherten Aufenthaltsstatus haben, sondern nur "geduldet" in der Hansestadt Hamburg sind.

Ibrahima ist einer von ihnen. Er hatte Glück, dass er beim Gastspiel in Essen überhaupt mitmachen konnte. Anfang Dezember hatte ein Beamter der Hamburger Ausländerbehörde ihn angewiesen, sich am 28. Dezember zur Abschiebung nach Guinea einzufinden. Ibrahima ist geschockt, denn erst im Juni endet die Schule mit den Abschlussprüfungen, und davor will er seine deutsche Freundin heiraten. "Für die Heirat habe ich im vergangenen November in meinem Heimatland Guinea Papiere angefordert - unter anderem die Ledigkeitsbescheinigung und einen Pass."

Das hatte Ibrahima zwar mit dem Standesamt vereinbart, doch nicht umgehend der Ausländerbehörde mitgeteilt, und damit begannen die Probleme. Die Hamburger Ausländerbehörde drohte mit Abschiebung, obwohl das Auswärtige Amt vor Reisen in das Land aufgrund der "innenpolitischen, sozialen und wirtschaftlichen Spannungen" ausdrücklich warnt. Erst nach einigem Hin und Her mit den Anwälten erhielt Ibrahima eine Duldung bis zum Sommer 2007 - um seinen Schulabschluss machen zu können. "Danach will ich mich an der Hamburger Erzieherschule anmelden", sagt er optimistisch und reibt sich über den dünnen Kinnbart.

Als er nach Deutschland kam, war er 15 Jahre alt. Ein Freund seines Vaters, damals ein bekannter Oppositioneller in Guinea, schmuggelte ihn an Bord eines Schiffes. "Mein Vater saß damals im Gefängnis und die Opposition wurde überall im Land verfolgt", schildert Ibrahima die Situation in Guineas Hauptstadt Conakry. Dort regiert seit 1984 General Lansana Conté autokratisch. Erst im Januar legte ein Generalstreik gegen dessen Herrschaft das Land lahm. "Dabei hat die Armee wahllos auf Demonstranten geschossen", erzählt Bouba.

Der junge Mann ist erst vor wenigen Wochen zu Hajusom gestoßen und bildet gemeinsam mit Ismael, Ousmane und Ibrahima die Guinea-Fraktion. Erst in Hamburg haben sich die vier kennengelernt, hier versuchen sie sich eine neue Perspektive aufzubauen.

Das ist alles andere als einfach, wie das Beispiel von Bouba zeigt. Mit 16 Jahren floh er von Guinea nach Mali, weil die Polizei hinter ihm her war. Sein Verbrechen war die Teilnahme an einer Schülerdemonstration wegen der unzumutbaren Bedingungen in den Klassenräumen. "Die Demo eskalierte, ich wurde als Rädelsführer bezeichnet und von der Polizei gesucht." Als sich die Situation in Conakry nicht beruhigte und die Polizei auch weiterhin nach ihm suchte, floh er über Frankreich nach Deutschland.

Schwer war es für den sympathischen hoch aufgeschossenen Mann, in Hamburg Fuß zu fassen, denn das französische Abitur, das er in Guinea schon beinahe in der Tasche hatte, zählt hier nicht. Sein Jugendtraum von der Ausbildung zum Grafiker endete in einer Lagerhalle in Pinneberg. Dort lebt Bouba gemeinsam mit seiner Frau und der kleinen Tochter. Das Kind ist der eigentliche Grund, weshalb er anders als sein Kumpel Alfa hier leben kann. Alfa wurde im November abgeschoben, und die Angst vor Abschiebung ist bei Hajusom ein wiederkehrendes Thema.

Einmal pro Woche trifft sich die Theatertruppe im Proberaum im alten Flakbunker in der Hamburger Feldstraße. Daneben ist das kleine Büro, wo neben der Telefonliste der Darsteller eine Liste mit den Nummern ihrer Anwälte hängt. Immer wieder müssen sich Ella Huck, Claude Jansen und Dorothea Reinicke von der künstlerischen Leitung um den Aufenthaltsstatus ihrer Darsteller kümmern. Diese Unsicherheit schlägt sich auch in den Stücken nieder. Die werden gemeinsam erarbeitet. So hat sich Ibrahima die Figur des Bertolt Brecht in "Holiday Inn" genauso ausgesucht wie Ben die von Otto Bender. Bender, Hamburger Chronist der Swing-Kids im Dritten Reich, empfängt die illustre Gästeschar im "Holiday Inn" an der Rezeption, während Bert Brecht alias Ibrahima durch das Stück führt. Darin wird ein weiter Bogen durch die Geschichte geschlagen: Von der beeindruckenden Karriere von Josephine Baker geht es über die Verfolgung der Hamburger Swing-Kids im Dritten Reich bis zur amerikanische Bürgerrechtsbewegung der Sechzigerjahre und endet im widersprüchlichen Hier und Jetzt.

Dabei werden Spiel- und swingende Tanzszenen locker aneinandergehängt und auf Ballast komplett verzichtet. Requisiten wie das Radio, der Swimmingpool und die Waschmaschine werden einfach aus den Körpern der Schauspieler gebaut: Aus vier Armen entsteht ein quadratischer Kasten, in dem sich ein Kopf, die Trommel, rhythmisch dreht. Und fehlt ein Radio, dann mimt einer die Antenne, zwei weitere das Gerät, und eine Schauspielerin tippelt eine gedachte Linie entlang, wo die Sender eingestellt werden. Eindrucksvolle, minimalistische Figuren, die die Zeitreise durch die politische Geschichte von sechs Dekaden genauso auflockern wie den langsam einsetzenden Verfall im Hotel. Dort kommen sich die Gäste langsam näher, weil alles im Luxushotel ins Rutschen kommt. Wasser und Strom fallen aus, Diebstähle häufen sich, bis schließlich alle Habseligkeiten der Gäste und obendrein auch noch die Pässe verloren gehen.

Fortan dreht sich alles um einige Seiten bedrucktes und bestempeltes Papier zwischen zwei Kartonpappen - den Pass. "Am Ende werden alle verrückt, denn sie haben zwar eine Identität, aber nicht mehr auf dem Papier", erklärt Shahab Kia, der den Karl Marx hinreißend interpretiert. Der junge Schauspieler aus Teheran weiß nur zu gut, was es heißt, keine gültigen Papiere zu haben. Genauso wie Ibrahima Bah, Aminatu Jalloh, die die Josephine Baker ergreifend spielt, oder Ismael Nabe alias Malcolm X. Mit ihren Erfahrungen von Ablehnung, Misstrauen und Kontrolle in einer fremden Welt wird das Publikum nicht nur in "Holiday Inn", dem siebten Hajusom-Stück, konfrontiert.

Aus einem Theaterworkshop ist Hajusom 1999 entstanden. Ella Huck, eine der drei künstlerischen Leiterinnen bei Hajusom, wurde damals von einer Freundin aufgefordert, mal Theater mit "den Kids" zu machen. Die "Kids", das waren junge unbegleitete Flüchtlinge, die in Hamburg-Langenhorn untergebracht waren. Dort arbeitete die Freundin, und Ella Huck biss an. Gemeinsam mit Dorothea Reinicke, Performancekünstlerin und Schauspielerin, stellte sie im Dezember 1998 einen Antrag auf Förderung eines befristeten "interkulturellen Theaterprojekts". "Das war letztlich die Geburtsstunde von Hajusom, denn der Antrag wurde bewilligt, und nach drei Monaten und einem ersten Auftritt wollten alle Beteiligten weitermachen", so Ella Huck.

Mit Claude Jansen stieß wenig später eine Dramaturgin dazu, womit die künstlerische Leitung komplett war. Zu deren Aufgaben gehört auch die Akquisition der Mittel: Über Spenden und Geld vom Europäischen Flüchtlingsfonds, Stiftungen und Behörden werden Büro und der Proberaum, den sich Hajusom mit einer weiteren Gruppe teilt, finanziert. Für die drei gehört die Suche nach Geldgebern genauso zur Arbeit wie das konkrete Proben und Erarbeiten der Stücke mit den jungen Darstellern. Der Name der verschworenen Gemeinschaft, zu der das Theaterprojekt im Laufe der Jahre geworden ist, ist Programm. Er ist Hommage an drei junge Flüchtlinge, die heute noch dabei wären, wenn man sie gelassen hätte: Hatice, eine junge Kurdin, wurde abgeschoben, bevor sie bei Hajusom einsteigen konnte; Jusef, ein Afghane, war bei mehreren Produktionen dabei, hatte aber keine Chance auf Asyl und floh in ein anderes westeuropäisches Land. Omid aus dem Iran musste mit seiner Abschiebung nach Teheran rechnen und tauchte daraufhin unter.

Die fehlenden Perspektiven sind zu einem zentralen Thema der Stücke geworden. Längst ist die Erfahrung von Flucht und Bürgerkrieg, die viele der jungen Darsteller gemacht haben, in den Hintergrund getreten. In den ersten Stücken, wie "Hajusom I-IV" oder "7 Leben", verarbeiteten die Jugendlichen noch ihre eigenen Erfahrungen von Krieg, Unterdrückung und Flucht. Das Theater wurde von ihnen als Instrument genutzt, um ihre eigene Geschichte beziehungsweise einen Teil davon zu erzählen. So wie Hassan aus Sierra Leone, der sechs Jahre als Kindersoldat in den Reihen der Rebellen kämpfen musste. Traumata, die in "7 Leben" auf die Bühne gebracht wurden und Hajusom den Bundespreis der Berliner Festspiele, aber auch viel Kritik einbrachten. Zu subjektiv sei dieses Theater, monierten die Kritiker.

Doch nicht die Darsteller, sondern das Publikum konnte die eindringlichen Szenen über das reale Leben in Afrika und Afghanistan nicht aushalten - viele Tränen flossen beim Gastspiel in Berlin. Da bei Hajusom kollektiv gearbeitet wird, jeder mitentscheidet, was gespielt wird und vor allem was er oder sie auf die Bühne bringt, lief die Kritik ins Leere. Hassan ging offensiv mit der eigenen Geschichte um, etwas was für Winifred Brown aus Liberia hingegen nicht auf die Bühne gehört - viel zu privat. Doch die Reaktion des Publikums ging den Hajusoms auch deutlich zu weit: Weniger Mitleid und mehr Integration ist seither eine zentrale Forderung.

"Die Darsteller haben keinen Bock mehr, nur Flüchtlinge zu sein", erklärt Claude Jansen. Die jungen Schauspieler zwischen zwölf und Anfang zwanzig sind an einem anderen Punkt: Sie kämpfen für ihre Zukunft, und das schlägt sich immer stärker in den Stücken nieder. Die Auseinandersetzung mit dem Publikum wird gesucht und gefordert, und die letzte Produktion, der "Club No Border", konfrontiert das Publikum mit unbequemen Fragen: "Können nicht alle Menschen international sein, so wie ich?", fragt Ahmad Shah Malikzada. Der Schauspieler kommt aus Afghanistan und hat für das Stück - wie die anderen Hajusoms auch - einen ganzen Strauß Fragen vorbereitet. "Was seht Ihr in uns Ausländern?" oder "Muss man sich seinen Pass verdienen?", wird das Publikum gefragt. Antworten werden gar nicht erwartet, aber Auseinandersetzung mit einer weitgehend unbeachteten Facette deutsche Realität ist erwünscht.

"Ziel des ,Club No Border' ist es, das Publikum an Grenzen zu bringen, es mit Grenzerfahrungen zu konfrontieren und sich dem Phänomen Grenze aus unterschiedlichen Perspektiven zu nähern", erklärt Dorothea Reinicke. Und Grenzen einreißen und neue Perspektiven eröffnen, das ist es, was die jungen Künstler wollen.

Für Ibrahima, Ben, Shahab, Rita und Co. ist das Theater längst zur zweiten Familie geworden. "Ohne das Theater wäre ich ein ganz anderer Mensch", sagt Ibrahima in einer Pause im Proberaum. Für den ehrgeizigen Ben, der gerade Fachabitur macht und dafür selbst auf das ausverkaufte Gastspiel in Essen verzichtet, ist die Bühne "mein eigentliches Zuhause". Pathetisch klingende Worte, doch man nimmt sie den Darstellern ab: "Wir wollen eine Welt, in der nicht nur die Papiere zählen, sondern der Mensch und der Körper", erklärt die talentierte Sängerin Rita Zulu die zentrale Botschaft von "Holiday Inn". Das Hotel ist das Spiegelbild einer Welt in Auflösung und zugleich ein Plädoyer für ein Leben von Gleichen unter Gleichen, ohne Diskriminierung der "anderen", der "Fremden". Für bessere Perspektiven kämpfen die Hajusoms - auf und auch neben der Bühne.

Improvisation wird bei Hajusom großgeschrieben, und vor einem Gastspiel müssen die Rollen öfter hin und her geschoben werden. So kann Ben alias Otto Bender nicht mit zur Aufführung in Essen fahren, weil er sich auf eine Prüfung vorbereiten muss. Claire fällt aus, weil sie gerade operiert wurde. Für die drei Projektleiterinnen gehört Flexibilität deshalb zum Geschäft. "Dann stellen wir das Stück eben um", sagt Ella Huck und zuckt mit den Schultern.

Knut Henkel

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