Background-Image

Die U-Bahn kommt pünktlich

Paradise Mastaz – Das Hajusom-Ensemble erzählt auf Kampnagel Hamburg über Flucht- und Sehnsuchtsorte

Hamburg, 12. April 2013. Am Anfang ist Chaos. Die Mitglieder des Hajusom-Ensembles bewegen sich zwischen Kulissen aus Metall, die wie hohe Lastenregale aussehen. Einige scheinen in sich versunken, sitzen oder liegen auf dem Boden; andere begrüßen die Zuschauerinnen und Zuschauer, die noch auf der Suche nach Plätzen sind. Nebenher setzt Musik ein. Ein Ensemblemitglied tippt in einen Laptop, der Text erscheint auf einer Leinwand in Form eines Blogs, das den Abend lose begleiten wird.

Es geht darin um den Anfang, wie aus der biblischen Genesis: Der Anfang, als alles noch ungeordnet ist und erst langsam Form annimmt. Ein anderes Mitglied der Gruppe ist nicht zufrieden mit dem, was da steht, es könnte auch anders gewesen sein. Man einigt sich, auf der Leinwand erscheinen zwei neue Versionen der Geschichte: "Am Anfang gab es vielleicht auch Bakterien. Am Anfang gab es vielleicht auch NICHTS."

Vom Wort zum Mensch
Das Hajusom-Ensemble, das zuletzt 2011 mit der preisgekrönten Produktion Hajusom in Bollyland beeindruckte (und seitdem auch einige kleinere Projekte durchgeführt hat) scheut auch im neuen Stück "Paradise Mastaz" die großen Fragen nicht. Zu Recht und zum Glück: denn das Ensemble mit seinen Regisseurinnen Ella Huck, Dorothea Reinicke und Katharina Oberlik findet beeindruckende theatrale und performative Wege vom klassischen "Was ist der Mensch?" zum dringlicheren "Was macht der Mensch?" oder auch: "Was macht den Menschen?".

Im weitesten Sinne ist "Paradise Mastaz" ein Stück über Migration und damit auch über den Hintergrund der Hajuson-Truppe, die 1999 als ein Projekt für junge unbegleitete Flüchtlinge gegründet wurde. Der Begriff wird dabei in unterschiedliche Richtungen gedehnt: Alltagssituationen und Alltagsrassismus spielen eine Rolle, europäische Wirtschafts- und Außenpolitik, das Verhältnis zwischen Europa und Afrika, die Erfahrung der Flucht. Die Performerinnen und Performer nähern sich diesen Themen in einzelnen Episoden, die je unterschiedliche Formen bekommen: Kleine Szenen werden gespielt, manchmal ein Stück gesungen, öfter getanzt (zur klug gesetzten Musik von Viktor Marek, live gespielt von Marek, Knarf Rellöm, Emanuel Boadu und Rahmat Hassani).

Distanz und Nähe des Puppenspiels
Dass diese Form eindrucksvoll gelingt, liegt daran, dass Ensemble und Regie ihr Vertrauen entgegenbringen: Statt übermäßig illustriert, interpretiert oder miteinander verbunden zu werden, bleiben die einzelnen Episoden im Wesentlichen für sich stehen. Unterschiedliche Inhalte werden so gleichwertig behandelt, Nicolas Sarkozys "Rede an die Jugend Afrikas", die vorgetragen wird, hat ebenso viel Raum wie Erlebnisse im Migrationsland Deutschland.

Vor allem entsteht aber der Eindruck, dass bei der Verbindung von Form und Inhalt viel und gut nachgedacht wurde. Gespräche zwischen Politikern als Muppet-Show-artige Puppen-Doppelconferencen machen ebenso viel Sinn (und Spaß) wie der verdichtete Erfahrungsbericht, der die Wahrnehmung Deutschlands aus der Sicht einer migrierten Person beschreibt, zu einem Rap: "U-Bahn kommt pünktlich, aber Leute tot."

In vielen der Szenen wird mit Puppen gespielt, die teils in Zusammenarbeit mit Niklas Loycke von Das Helmi, Berlin, teils mit Yaya Coulibaly von der Troupe Sogolon aus Bamako, Mali, gebaut wurden.

Dabei entstehen nicht nur starke Bilder. Die Distanz, die das Puppenspiel zwischen Publikum und Spieler/innen herstellt, macht auch restlos klar, dass die Mitglieder des Ensembles nicht etwas "sich selbst spielen" oder ihre Lebensgeschichten erzählen würden – sie sind Performerinnen und Performer auch dann, wenn sie aus ihrem Alltag erzählen, und sie sind sehr gut darin.

Reise übers Meer
In einer der besten Szenen des Abends zeigt sich das Gelingen der reduzierten Episodenform ebenso wie die Bedeutsamkeit der variablen Bühnenelemente von Markus Lohmann für dieses Gelingen: Auf der dunklen Bühne entsteht aus Geräuschen und (wenigen) Lichtelementen das Meer. Zusätzliche Atmosphäre wird mit Hilfe des Chansons "La Mer" von Charles Trénet geschaffen, das im Hintergrund läuft.

Durch das Dunkel bewegt sich langsam ein kleines Boot, das nur durch die schwache Beleuchtung am Bug erkennbar ist. Auf der Leinwand aber werden die Passagiere sichtbar: zusammengedrängte (Puppen-)Köpfe, die sich nur flüsternd unterhalten. Ein afrikanisches Boot auf dem Weg nach Europa. Ein Nebelhorn übertönt plötzlich das Lied: Von der anderen Seite schiebt sich ein großes Schiff ins Bild. Das kleine Boot verschwindet, das Schiff (aus den metallenen Bühnenteilen zusammengesetzt) nimmt nun die ganze Bühne ein, das Licht geht an: Ein Kreuzfahrtschiff, das seine europäischen Passagiere in Afrika an Land entlässt, wo sie umgehend beginnen, ihre Klischeevorstellungen vom exotischen dunklen Kontinent auszubreiten.

Flucht und Sehnsucht
Die Reise geht in beide Richtungen. Was für die einen das Paradies ist, ist für die anderen ein Ort, den sie hinter sich lassen wollen – oder müssen. So schlicht lassen sich aus komplexen Zusammenhängen eindrucksvolle Bilder erzeugen. Dem Ensemble Hajusom ist mit "Paradise Mastaz" ein Programm gelungen, das Klischees vermeidet, klug mit Humor und Witz umgeht und eine eigenständige, beeindruckende Bildsprache entwickelt. Dass das ehemalige Flüchtlingsprojekt längst ein ernstzunehmendes Performance- und Theaterensemble ist, sollte allerspätestens mit diesem Stück klar sein. Stehende Ovationen auf Kampnagel: Zu Recht.

Nikolaus Stenitzer

www.kampnagel.de

ImpressumDatenschutz
Nachtkritik, 12.04.2013